Gute Zuhörer, fleißige Handwerker
In Wilhelmsdorf in Mittelfranken ist bis heute das
reformierte Erbe der Ortsgründer spürbar
Wilhelmsdorf ist anders. Es ist ein Dorf ohne
Bauern, eine Kirchengemeinde, die im Gottesdienst niemals einen
Klingelbeutel herumreicht, und es war bis vor kurzem das Weltzentrum
der Zirkelproduktion. Der Ort, zwischen Fürth und Neustadt (Aisch)
gelegen, ist als hugenottische Neugründung ein Unikum in
der historischen Landschaft Bayerns.
Foto: Sauerbeck
Calvinistische
Schlichtheit prägt bis heute den Innenraum der (inzwischen
lutherischen) Hugenottenkirche von Wilhelmsdorf. Links an der
Empore das Hugenottenkreuz.
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Für Besuchergruppen hat Wilhelmsdorf einen pragmatischen
Vorteil. Denn alle bedeutenden Sehenswürdigkeiten sind nur ein paar
Schritte voneinander entfernt: die kleine Hugenottenkirche und das
Zirkelmuseum am Hugenottenplatz. Wer nun noch bedenkt, dass das
größte öffentliche Gebäude am Platz »Hugenottenhalle« heißt, dem
dürfte aufgehen, wem die Wilhelmsdorfer »Franzosen«, wie die
Nachbarn sagen, ihre besondere Prägung zu verdanken haben.
Es war anno 1685 und einer jener Momente, in denen sich die
Erschütterungen der ganz großen, der europäischen Geschichte bis in
die fränkische Provinz fortpflanzten. In Frankreich hatte Ludwig
XIV. eben das »Edikt von Nantes« aufgehoben, das den Protestanten
seines Landes die freie Religionsausübung zugesichert hatte.
Foto: Sauerbeck
Lebendiges Erbe: Aus
der Heimat der Wilhelmsdorfer Hugenotten stammt dieses
Grabkreuz einer Nachfahrin des Ortsgründers Jean Bonnet, das
Bürgermeister Werner Friedrich, Pfarrer Martin Simon und
Heimatforscher Willi Seibold (von links) stolz vorzeigen.
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Unter denen, die sich lieber in der Fremde ein neues
Auskommen suchen wollten, als dem reformierten Glauben abzuschwören,
befand sich Pastor Jean Bonnet mit einer Hand voll Familien aus dem
Hochgebirgsort Mizoën (Oisans) im Südosten des Landes, heute im
Departement »Rhône-Alpes« gelegen. Im Juni 1686 kam er mit 71
Personen in Erlangen an, von wo ihn Markgraf Christian Ernst von
Brandenburg-Bayreuth in eine seit dem Dreißigjährigen Krieg
wüst liegende Einöde im Albachtal unweit von Emskirchen
weiterschickte. Hier gründete Bonnet eine Flüchtlingssiedlung, die
er nach dem markgräflichen Erbprinzen Georg Wilhelm »Wilhelmsdorf«
benannte.
Es dauerte einige Jahre, bis die Franzosen in der Kargheit
des Frankenlandes Fuß gefasst hatten. Aufwärts ging es erst, als die
Wilhelmsdorfer auf ihre handwerklichen Talente setzten und sich auf
das Strumpfwirkergeschäft verlegten. Den bescheidenen Wohlstand, der
sich im Laufe der Jahrzehnte einstellte, symbolisiert der Neubau der
Hugenottenkirche im Jahr 1754.
Schlichter Holztisch als Altar
Das Gotteshaus, das seinen Namen erst seit gut fünfzig
Jahren trägt, ist das sichtbarste Zeugnis der reformierten
Vergangenheit: ein quadratischer, schlichter Betsaal, dessen
einstige calvinistische Strenge auch in seiner heutigen,
evangelisch-lutherischen Zeit noch spürbar ist. Kein steinerner
Altar, sondern ein schlichter Holztisch steht unter der zentral
platzierten Kanzel. An der Empore erinnert seit jüngster Zeit ein
Hugenottenkreuz an die Frühzeit der Gemeinde. Auch in den Menschen
lebt das reformierte Erbe, findet Pfarrer Matthias Simon: »Hier wird
bei der Predigt besonders genau hingehört!« Schließlich hatte das
Wort bei Calvin einen besonders hohen Stellenwert.
Foto: Sauerbeck
Der Klingelbeutel in
der Hugenottenkirche ist fest am Ausgang verankert.
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Damit die Konzentration der Gemeinde auf das
gottesdienstliche Geschehen nicht gestört werde, ist das
Herumreichen des Klingelbeutels bei den Reformierten verpönt. Und so
geben auch die Wilhelmsdorfer Lutheraner bis heute ihr Scherflein am
Ausgang, wo Klingelbeutel und Kollektendose nebeneinander stehen.
Ein paar Häuser weiter, im gemeindlichen Zirkelmuseum, ist
die andere Seite des reformierten Erbes präsent. Denn in Fleiß und
Handwerkgeschick sind die Wilhelmsdorfer ihren Nachbarn bis heute
ein gutes Stück voraus - immerhin hat die 1300-köpfige politische
Gemeinde rund 500 Arbeitsplätze und damit mehr Ein- als Auspendler.
Nach dem Niedergang der Strumpfwirkerei machten die Nachfahren der
Hugenotten in Reißzeug, und sie machten es so gut, dass noch in den
1960erJahren jeder dritte Zirkel, der auf dem Globus in Gebrauch
war, aus dem Albachtal stammte.
Als auch die Zirkel nicht mehr trugen, verlegte man sich
auf die Kunststoffverarbeitung. Und landete wieder an der
Weltspitze: Nahezu jeder Mensch, der heute zwischen Sibirien und dem
Kap der Guten Hoffnung Kopfhörer mit Schaumstoffeinlagen trägt,
spürt an den Ohren den Komfort fränkischer Handwerkspräzision.
Wer genau hinsieht wie Alt-Bürgermeister Willi Seibold, der
seit über zwanzig Jahren das verschüttete Bewusstsein der
reformierten Vergangenheit wieder ausgräbt, kann sogar in alten
Flurkarten und Häuserzuschnitten reformierten Geist erkennen: Die
Grundstücke waren jahrhundertelang schmale Streifen, die Tal und
Hang, gute und schlechte Böden umfassten. Die Häuser der
Reformierten, von denen eine Zeile gegenüber der Kirche erhalten
ist, verfügten zum Teil über einen komplizierten und ständig
wechselnden Eigentums- und Zimmerzuschnitt. Der konnte einer
vielköpfigen Familie schon mal ein Zimmer in einer Nachbarwohnung
zugestehen - aus purer Gerechtigkeit. »Das reformierte
Grundverständnis war sehr demokratisch und streng am Bedarf
orientiert«, hat Seibold festgestellt.
Das Einzige, was bei so viel reformiertem Erbe fehlt, sind
die Reformierten selbst. Sie assimilierten sich schon im Laufe des
18. Jahrhunderts an die bald zahlenmäßig überlegene lutherische
Ortsgemeinde, die lange formal nach Emskirchen gehörte. Eine Zeit
lang wechselten reformierte und lutherische Gottesdienste, 1873 ging
die Kirche in lutherischen Besitz über. Der letzte Reformierte von
Wilhelmsdorf, Hans Martin, starb 1943, nachdem viele Jahre lang noch
allein für ihn viermal im Jahr der reformierte Pfarrer von Erlangen
zur Abendmahlsspende angereist war.
Inzwischen bestehen Wilhelmsdorfer Kontakte zur
protestantischen Gemeinde von Briançon in der Gegend, aus der die
Gründerväter stammten. Dreimal schon musizierten die Wilhelmsdorfer
Posaunenbläser auf Marktplätzen und Kirchen im Oisans. »Es schien
so«, schreibt Willi Seibold in seiner Chronik, »als seien entfernte
Verwandte, die sich gar nicht mehr kennen, dort zusammengetroffen.«
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INFORMATIONEN
Adressen
Gemeinde
Wilhelmsdorf mit Zirkelmuseum. Hugenottenplatz 8, 91489
Wilhelmsdorf, Tel. (09104) 897814, E-Mail:
info@wilhelmsdorf.de, Internet:
www.wilhelmsdorf.de und
www.weiherwanderweg.de.
Ev.-Luth.
Pfarramt mit Hugenottenkirche, Martin-Luther-Str. 6, 91489
Wilhelmsdorf, Tel. (09104) 699.
Öffnungszeiten
von Zirkelmuseum und Kirche von Mai bis September jeden 1. und 3.
Sonntag im Monat von 14 bis 17 Uhr oder n. Vereinbarung., E-Mail:
info@zirkelmuseum.de, Internet:
www.zirkelmuseum.de.
Literaturtipp
Seibold,
Willi: Kirche aus der Wüste. 250 Jahre Hugenottenkirche
Wilhelmsdorf, Emskirchen 2004.
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